Getrieben vom Hunger begehrte der Fuchs vom hohen Weinstock eine Traube, mit äußersten Kräften springend. Doch da es ihm unmöglich war, diese zu erlangen, behauptete er im Weggehen: „Sie ist noch nicht reif; Und saure will ich nicht nehmen.“ Die mit Worten schlecht machen, was sie nicht erreichen können, müssen sich diese Fabel zuschreiben. Äsops Fabeln, Viertes Buch (Übersetzung: Lateinheft.de)
Derartige Situationen erleben wir immer wieder im Leben. Wir bekommen einen interessanten Job nicht, den wir uns eigentlich gewünscht hätten, und denken im Nachhinein an die finanziellen Einbußen, die er mit sich gebracht hätte. Wir freuen uns sogar, dass wir das nun nicht in Kauf nehmen müssen. Oder wir bekommen eine Wohnung nicht und denken: “Ach, die war eh auch ziemlich dunkel.” Oder eine Beziehung scheitert, und hinterher denken wir: “Gut, dass ich mich jetzt mit bestimmten Konflikten nicht mehr auseinandersetzen muss,” und sind regelrecht erleichtert.
Die Idee der kognitiven Dissonanz greift die Metapher vom Fuchs und den Trauben auf und entwickelt um dieses Phänomen herum eine eigenständige psychologische Theorie. Um unser Selbstbild stabil zu halten, und vielleicht auch, um die Traurigkeit nicht spüren zu müssen, werten wir das, was wir uns gewünscht hätten, ab – und zwar was das Zeug hält. Streng genommen lügen wir uns also etwas vor. Wir verzerren die Welt. Machen sie uns so, wie sie uns gefällt. Wie Pippi Langstrumpf.
Betrachtete man den Menschen als ein monadisch in sich abgeschlossenes Wesen, so könnte man hier tatsächlich von einem psychologischen Denkfehler ausgehen. Zieht man jedoch das größere Ganze in Betracht, das System, also die mannifgaltigen Verwobenheiten und Prozesse, in die wir eingebettet sind, so weitet sich unser Blick. Dann erkennen wir: Es gibt vielleicht einen guten Grund, warum etwas nicht so geschah, wie wir es uns eigentlich gewünscht hätten. Diese schlichte Tatsache blendet rein personorientiertes psychologisches Denken systematisch aus.
In Äsops Fabel bespielsweise könnte man durchaus darüber nachdenken, warum es für den Fuchs tatsächlich gut ist, dass er die Trauben nicht frisst. Warum zum Beispiel ist er vom Körperbau her so klein? Hat es die Natur nicht klug eingerichtet, dass er nur bodennahe Nahrung zu sich nehmen kann? Ist ein Fuchsmagen überhaupt in der Lage, größere Mengen frische Trauben zu verdauen?
Jede kognitive Dissonanz hat, nimmt man das größere Ganze in den Blick, einen wahren Kern. Betrachten wir nur die Einzelperson, so erscheint sie als eine narzißtische Rechtfertigung, als ein “sich selbst in die Tasche lügen”. Wenn wir etwas begehren, dann begehren wir es ja tatsächlich. Betrachten wir jedoch das gesamte System, so entspannt sich etwas. Dann können wir die Gegebenheiten annehmen: Wenn etwas nicht so kommt, wie wir das gewollt hätten, können wir anerkennen, dass das so ist. Unser Begehren ändert sich auch nicht im Nachhinein. Und zugleich können wir anerkennen, dass es nicht so eintrat, wie wir es gewünscht haben. Und uns dabei fragen: Was ist eigentlich impliziert?
Dann dreht sich das Blatt. Diese Frage öffnet eine neue kleine Tür. Wir verstehen, dass da noch mehr ist, als das ursprüngliche Begehren, dass da auch widersprüchliche Facetten in dem Thema liegen. Facetten, die wir bisher ausgeblendet hatten. Nur so erhalten wir die Chance, alle Aspekte zu berücksichtigen, die relevant sind. Nur so werden wir innerlich ganz und handeln aus dieser Ganzheit heraus wirklich stimmig. Nur so erhalten wir die Möglichkeit, die Welt auf lange Frist wirklich so umzugestalten, dass wir uns darin zu Hause fühlen: Widde – widde – wie sie uns gefällt.
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