Der Philosoph Immanuel Kant war ja ein seltsamer Kauz. Zumindest würden wir ihn heute wohl als einen solchen bezeichnen. Er lebte alleine in seiner Wohnung, heiratete nie und tat sein Leben lang nichts anderes als zu Lesen, Nachzudenken und Bücher zu schreiben. Er hatte folglich auch keine Kinder, die Lehre an der Universität nervte ihn und er hatte nicht einmal Interesse daran, Königsberg, die Stadt, in der er lebte, zu verlassen. Dabei hätte er durchaus viele Chancen gehabt. Nicht nur (wie ich mal annehme) bei den Frauen – Kant hätte auch so richtig Karriere machen können. Große Universitäten der damaligen Zeit wie Jena oder Halle hätten ihn gerne bei sich gesehen, aber er wollte nicht. Es scheint so, als ob er viele der Lebensmöglichkeiten, die sich ihm, dem gefeierten Philosophie-Popstar des 18. Jahrhunderts, geboten hätten, ausschlug.
Interessanterweise hat er jedoch viel über dieses Thema nachgedacht. Sein Denken kreist in dem ein oder anderen Buch durchaus um die Frage, wie das so ist mit den Möglichkeiten, die man sich vorstellt. In seinem Hauptwerk “Kritik der reinen Vernunft” schreibt er beispielsweise:
Das Schema der Möglichkeit ist die Zusammenstimmung der Synthesis verschiedener Vorstellungen mit den Bedingungen der Zeit überhaupt (z.B. da das Entgegengesetzte in einem Dinge nicht zugleich, sondern nur nacheinander sein kann), also die Bestimmung der Vorstellung eines Dinges zu irgend einer Zeit.
Das ist doch ein spannender Gedanke. Möglichkeiten finden in unserer Vorstellungswelt statt und lassen sich dort nur zeitlich denken – denn unser Denken ist immer ein zeitliches Denken. Oder anders gesagt: wir können nicht nicht zeitlich denken, genauso, wie wir nicht nicht räumlich denken können. Wir sortieren also, so könnte man vielleicht sagen, das, was wir uns vorstellen, zeitlich nacheinander, denn entgegengesetzte Dinge können wir nicht zugleich, sondern nur nacheinander tun.
Unsere Lebenszeit ist ja nun einmal begrenzt. Das ist einfach so – das können wir nicht ändern. Was bedeutet Kants Gedanke dann für die Möglichkeiten, die wir im Leben haben? Könnten wir ihn das fragen, so würde er vielleicht antworten, dass wir das, was wir wollen, die Vorstellungen also, die wir uns vom Leben machen, allein schon dadurch, dass wir darüber nachdenken, in eine zeitliche Reihe bringen. Auf dieser Basis können wir handeln. Es nützt also nichts, vage darüber zu spekukieren, was wir vielleicht tun könnten. Erst, wenn wir es konkret zeitlich (und räumlich) denken, kann das, was wir uns vorstellen, Wirklichkeit werden.
Ein kleiner Gedankensprung – Gene Gendlin nannte einen ganz ähnlichen Vorgang einmal “den Felt Sense schlachten”. Er setzt dabei noch früher an, als Kant. Ein Felt Sense ist ein vages Gefühl, das wir in uns tragen. Sobald dieses implizite Gefühl konkreter wird, d.h. bestimmte explizite Gedanken, Ideen oder Handlungsimpulse aus ihm heraus entstehen, können wir nicht mehr zurück. Wir machen (schon vor dem Handeln) bereits gedankliche Schritte in eine bestimmte Richtung und haben uns damit schon in gewisser Weise für eine bestimmte Vorauswahl an Möglichkeiten festgelegt.
Während im vagen Gefühl quasi noch unendlich viele Möglichkeiten offen stehen, wählen wir, sobald wir beginnen, konkreter darüber nachzudenken, mehrere dieser Möglichkeiten aus. (Eigentlich müsste man sagen: indem sich das Vage konkretisiert, kristallisieren sich diese Möglichkeiten von selbst heraus).
Das ist im Großen so, bei der Frage, mit welchem Partner, welcher Partnerin wir zusammenleben wollen, ob und wieviele Kinder wir haben wollen, wo wir leben und arbeiten, welchen Beruf wir ergreifen und mit welchen Dingen wir uns dabei beschäftigen wollen. Auch im Kleinen ist es nicht anders. Ob ich heute Hühnchen esse oder Bratkartoffeln oder gar nichts, ob ich über Kant nachdenke, mein Auto zur Werkstatt bringe oder doch lieber draußen spazieren gehe… dies alles, und noch viel mehr (so fühle ich implizit) steht mir offen, solange ich die Möglichkeiten, die sich mir bieten, noch als ein unbestimmtes, vages Gefühl in mir trage.
Beginne ich jedoch zu konkretisieren, benenne also in meiner Vorstellung konkrete Dinge, die ich tun kann, dann kann ich nicht mehr zurückkehren zu dem ursprünglichen, vagen, “unschuldigen” und weiten Gefühl, das mir implizit gesagt, dass mir alles Mögliche offen steht. Der Kreis der konkreten Möglichkeiten hat sich auf die (ganz bestimmte) Anzahl an konkreteren Dingen eingeschränkt, die ich mir nun vorstelle. Und habe ich mich schließlich erst einmal entschieden, zu handeln, ist dieser Kreis auf eine einzelne, noch konkretere Möglichkeit zusammengeschrumpft, die dann Wirklichkeit wird (hier sind wir wieder bei Kant).
Natürlich kann ich mich auch im Nachinein immer wieder neu entscheiden oder früher getroffene Entscheidungen revidieren. Aber es ist inzwischen Zeit vergangen, und das ist der entscheidende Punkt. Wie bei einem Reset beginne ich dann neu, aber zurück komme ich nicht mehr. Das Leben ist eine Einbahnstraße. Zu dem ursprünglichen, impliziten, vagen, offenen Gefühl, das ich “gestern” noch hatte, kann nicht mehr zurückkehren. Es kann immer nur ein völlig neues Gefühl in mir entstehen.
Vielleicht hört sich das für Sie als Leser oder Leserin deprimierend an. Die gute Nachricht ist jedoch: so lange Sie noch nicht gestorben sind, ist dies jederzeit möglich. Neue, offene, vage Gefühle können in jedem Augenblick in uns auftauchen, manchmal geschieht dies völlig unerwartet. Aus diesen Gefühlen entstehen dann wieder neue, konkrete, vorstellbare Möglichkeiten und das Spiel geht von vorne los.
Die Frage ist wohl, welchen Weg wir dann jeweils nehmen. Kant jedenfalls hat sich entschieden, lieber über die Dinge nachzudenken, die ihn beschäftigten, als raus in die weite Welt zu gehen. Das ist ja auch eine ganz konkrete Art, sein Leben zu leben.
Hallo Tony,
vielen Dank für deine philosophische Gedanken. Ich bin bei dir, dass das Leben eine Einbahnstrasse ist. Allerdings, wäre es im Gegensatz zu Kant Aufgabe des modernen Philosophen die Philosophie in Bildern und nicht in kantischen Sätzen dar zu stellen. Ich zumindest habe letztens mit einem alten Freund darüber philosophiert, dass das Leben eine Einbahnstrasse sein müsste. Man stellt sich ein Zug vor der lediglich in eine Richtung fährt. Das ist unser Leben. Es ist möglich in andere Züge zu springen während “unserer” Zugfahrt. Muss es ja auch, da wir das Leben anderer beeinflüssen..Dies ist sogar Teil des unendlichen Planes. Es gibt die eine Richtung die ich nicht ändern kann. Das Ziel meiner Zugreise ist einfach nicht entscheidend, sondern die Reise an sich. Und während der Zug fährt kann ich lediglich entscheiden mit welchen Gästen ich mich unterhalte. Welche Gäste ich in mein Leben zulasse und welche nicht. Ich kann mich entscheiden ob ich kurz oder länger auf einen anderen Zug springe. Am Anfang meiner Reise ging ich alleine in diesen “meinen” Zug. Ich werde auch alleine da raus gehen. Im Grunde genommen bin ich die ganze Reise lang auch alleine. Nicht einsam. Lediglich alleine. Warum? Weil dieser Zug mein persönlicher Zug ist. Die Richtung ist meine persönliche Richtung. Einzigartig. Einmalig. Kant hat sich entschieden auf seiner Zugreise sich auf seinem Platz hin zu setzen und zu lesen, denken und beobachten.
Ich glaube, dass die Reise dafür da ist ALLES zu zu lassen solange es nicht schädigend ist. Einfach JA zu Allem zu sagen. Alles andere sind verpasste Chancen. Verpasste Möglichkeiten. Verpasste Bekanntschaften.
Der Grund warum wir nicht wieder zum ursprünglichen Punkt können ist weil der Zug stets in Bewegung ist. Paradoxerweise gibt es keine wirkliche Zeit. Hier muss ich Einstein einbeziehen. Zeit ist relativ. Für den Zugreisenden kann es keine Zeit geben da er ständig unterwegs ist. Er hält nicht. Somit vergeht zwar seine Zugreise. Der Zug fährt ja. Für den Reisenden gibt es allerdings von seiner Sicht aus keine Bewegung da er sich ständig auf Bewegung befindet er es aber nicht bewusst wahr nimmt. Dies ist vergleichbar mit unserer Situation auf der Erdkugel. Die Erdkugel bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit um die eigenen Achse. Die Menschen nehmen nichts davon wahr. Sie meinen, dass die Erde still stehen würde.
Im Ergebnis: Der Reisende kann nie zurück zu einer ursprünglichen Ausgangslage da der Zug sich nicht mehr da befindet. Der reisende hat IMMER lediglich den Augenblick. Der Augenblick und nur den Augenblick allein. Ich finde es durchaus nicht deprimierend, sondern zutiefst inspirierend. Somit haben wir Menschen IMMER WIEDER eine neue Chance. Eine neue Chance um uns zu schauen und wach zu werden und die anderen im Zug wahr zu nehmen und uns selbst auch. Wir haben immer wieder die neue Chance unsere Reise so schön wie möglich zu gestalten und für unsere Reisegäste auch! Ist das nicht wunderschön?
Viele liebe Grüße aus Paderborn
[…] Damit hat ‘Aidanne’ wohl recht in ihrem Kommentar. Sie hat das nur ein wenig poetischer beschreiben als Gendlin. […]